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Prof. Dr. Sibylle Lehmann-Hasemeyer: Wer kauft eigentlich Aktien?

Düsseldorf, 29.03.2017 15:53 Uhr (Gastautor)

Aus der Geschichte lernen. Die Wirtschaftshistorikerin von der Universität Hohenheim hat Zugriff auf historische Daten, um daraus abzuleiten, wie sich Aktienanleger tatsächlich verhalten und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen.

"Ein junger Arbeitnehmer investiert anders als ein Großindustrieller im Rentenalter ...", so Prof. Dr. Sibylle Lehmann-Hasemeyer. "Unter anderem steuern Erwartungen an Unternehmen und Politik das Kaufverhalten." Lehmann-Hasemeyer untersucht in dem Projekt "Expectations and experience: What governed investment in banking stocks (1897 to 1931)" u. a., wie die persönliche Biografie, Erwartungen, Erfahrungen und Krisenerlebnisse das Verhalten der Aktienanleger beeinflussen.

Das Team um Prof. Dr. Lehmann-Hasemeyer kombiniert eine Reihe von Quellen aus der krisengebeutelten Zeit zwischen 1897 und 1931. Die gewählte Zeitspanne hat neben ihrer historischen Brisanz jedoch auch einen pragmatischen Hintergrund. Lehmann-Hasemeyer: "An detaillierten, aktuellen Informationen zu Aktienanlegern kommen wir heute aus Datenschutzgründen kaum heran." In mühsamer Handarbeit sammelt und analysiert das Forscherteam daher die Börsenkurse von zeitweise bis zu 150 Banken, die zwischen 1897 und 1931 an der Berliner Börse notiert waren und seit 1897 ihre Finanzen offenlegen mussten. Aufsichtsratslisten, interne Akten, Hauptversammlungslisten und Briefe an die Aktionäre geben Einblicke in die Unternehmen, hinzu kommen zeitgenössische Zeitungsberichte und private Unterlagen von Aktionären.

Aus diesem Quellen-Mosaik will das Team Erkenntnisse über das Verhalten von Aktienanlegern ableiten, die sich auf die heutige Zeit übertragen lassen. „Auch heute noch haben Medienberichte, Erwartungen an Politik und Unternehmen oder auch die Prägung durch einschneidende Krisenereignisse einen Einfluss auf das Verhalten von Anlegern“, ist sich Prof. Dr. Lehmann-Hasemeyer sicher.

So war zum Beispiel öffentlich bekannt, welche Unternehmen Politiker in ihren Aufsichtsräten sitzen hatten. „Anleger, die diese Information hatten, rechneten möglicherweise damit, dass die Unternehmen von der Politik begünstigt oder im Krisenfall gerettet werden.“ Solche Erwartungen an die Politik spielten noch heute eine Rolle: zum Beispiel bei Banken, die als „too big to fail“ gelten, also so groß sind, dass ihr Untergang Probleme für das ganze Wirtschaftssystem nach sich ziehen würde.

Es gibt eine implizite Garantie, dass solche Banken gerettet werden. Das ist auch heute noch ein wichtiges Mittel zur Stabilisierung: Wenn die Rettung einer kriselnden Bank zu scheitern droht, verkaufen unsichere Anleger hastig ihre Aktien und besiegeln dadurch erst recht den Untergang der Bank.

Die persönliche Biografie beeinflusst das Aktienkaufverhalten

„Einschneidende Ereignisse wie Kriege und Wirtschaftskrisen wie die Hyperinflation 1923 hinterlassen ihre Spuren. Wer ein solches Erlebnis mitgemacht hat, ist wahrscheinlich sehr viel vorsichtiger und risikoscheuer als jemand Jüngeres, der das nicht erlebt hat.“ Hinzu kämen Faktoren wie der Charakter, der Zugang zu Informationen oder auch der persönliche Bezug zu einem Unternehmen in der Nähe. Besonders in wirtschaftlichen Krisenzeiten ließen sich außerdem viele Anleger von Herdenverhalten lenken, folgten also unüberlegt und irrational dem Verhalten der Masse.

Auch das Herdenverhalten wird analysiert: "Unsichere Anleger beobachten genau, wie sich andere Aktionäre verhalten. Verkaufen diese vermehrt Aktien einer bestimmten Bank (s. o.), gehen die unsicheren Anleger davon aus, dass die anderen Aktionäre mehr wissen als sie, zum Beispiel über drohende Schwierigkeiten der Bank. Anstatt sich selbst ein Bild zu machen, folgen sie schnell dem Beispiel der anderen.“

Am entgegengesetzten Extrem finden sich die risikofreudigen Anleger, die zu viel Vertrauen in sich selbst und ihre Investitionen haben: Sie blenden negative Signale aus und verspüren keinerlei Unsicherheit. Beides sind irrationale Verhaltensweisen, die sich vermutlich aus der Biografie des Einzelnen erklären lassen.

Alte Quellen zur Aktienanlage
Quelle: Universität Hohenheim / Andreas Neumayer

Einen genaueren Blick auf solche Einzelbiografien erlaubt ein Fund, den das Team von Prof. Dr. Lehman-Hasemeyer im Wirtschaftsarchiv Baden-Württemberg gemacht hat: In dem an die Universität angegliederten Archiv lagern Geheimbücher mit den privaten Aktien-Portfolios von Industriellen. „In manchen der Bücher finden sich noch Notizen und Anmerkungen zum Kauf der Aktien“, schwärmt Prof. Dr. Lehmann-Hasemeyer. Der wertvolle Fund soll Aufschlüsse darüber geben, welche Überlegungen beim Kauf und Verkauf der Aktien ausschlaggebend waren.

Nach dem Ende seiner dreijährigen Laufzeit könnte das Projekt eine lange für sicher gehaltene Annahme der Finanzforschung auf den Kopf stellen, glaubt Prof. Dr. Lehmann-Hasemeyer. "Bislang gehen wir davon aus, dass die Märkte die Anleger beeinflussen. Werden die Märkte unberechenbarer, so die Deutung, zieht dies risikofreudigere Anleger an.“ Genau das Gegenteil könnte auch der Fall sein, vermutet die Wirtschaftswissenschaftlerin: „Es könnte doch sein, dass Aktienkurse erst durch risikofreudige Anleger unberechenbar werden."

(Quelle: Universität Hohenheim)

(Fotos: Universität Hohenheim / Andreas Neumayer und Universität Hohenheim/Fakultät WISO/Oskar Eyb)

 

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