Düsseldorf, 11.07.2019 15:38 Uhr (Gastautor)
Dr. Ingeborg Niestroy ist Senior Fellow am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS). Sie befasst sich seit zwanzig Jahren mit der EU-Nachhaltigkeitspolitik.
Die Europäische Union (EU) sortiert sich neu und ringt um die Spitzenpositionen. Wie es auch ausgeht, Nachhaltigkeitspolitik dürfte eine stärkere Rolle spielen. Nun wird die EU beim UN High-Level Political Forum erstmals über die Umsetzung der SDGs berichten.
IASS: Sie haben die Governance-Ansätze der 28 EU-Mitgliedstaaten bezüglich der Nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen (SDGs - vom Englischen Sustainable Development Goals) miteinander verglichen. Wie nachhaltig sind die Länder nach dieser Analyse denn aufgestellt?
Ingeborg Niestroy: Die SDGs haben neuen Schwung in die Nachhaltigkeitsbemühungen aller Länder gebracht - in vielen wurden sie zur Chefsache erklärt. Das Besondere ist, dass die SDGs universell sind, folglich zwar für alle gelten, aber die Wege dahin unterscheiden sich sehr je nach Ausgangslage. Eine Mehrheit der Länder hat Maßnahmen ergriffen, um die Koordination zwischen den Ressorts, den regionalen und lokalen Ebenen zu verbessern sowie das Engagement gesellschaftlicher Gruppen zu stärken. Typischerweise werden neue Gremien, Prozesse und unterstützende Instrumente eingeführt. Hierzu zählt die Beratung durch die Wissenschaft etwa bei Folgenabschätzungen von Politikoptionen.
IASS: Gibt es Leuchtturmländer?
I.N.: Einzelne Leuchtturmländer zu benennen, ist nicht angemessen. Eher umgekehrt wäre es möglich: Fast alle EU-Mitgliedstaaten haben beim Hochrangigen Politischen Forum der UN einen sogenannten freiwilligen nationalen Bericht (Voluntary National Report) abgeliefert – und haben somit recht aufrechtes Bemühen gezeigt. Bis 2018 waren es 24, dieses Jahr kommen zwei Zögerliche hinzu (Kroatien und UK), und dann fehlen immer noch zwei (Bulgarien und Österreich). Diese Berichte sind meist keine „Papiertiger“, sondern sie beschreiben konkrete Maßnahmen. In einigen Ländern zahlt sich aus, dass sie sich schon lange um Governance für eine nachhaltige Entwicklung bemühen. Hier wurden viele Maßnahmen ergriffen, Varianten ausprobiert, es wurde in allen Bereichen nachgesteuert und eingeführt, was sich bewährt hat. Zu diesen Ländern gehören beispielsweise Finnland und Deutschland, und ähnlich auch Lettland und Tschechien.
Andere Länder mit längerer Historie hat der neue Schwung weniger getragen, - dazu zählen beispielsweise Portugal, Frankreich, Belgien und die Niederlande. Die Niederlande setzen stark auf die Selbstorganisation von Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Ebenso ist in Italien „von unten“ eine große Allianz entstanden. In anderen Ländern kommen die SDGs gerade zum richtigen Zeitpunkt, um ein „Sich-neu-Aufstellen“ anzuregen wie beispielsweise in Spanien und auch Irland ist ein Spätzünder, der aber Feuer gefangen hat.
IASS: Welche Rolle spielen bei den SDGs die Parlamente?
I.N.: Neben ihrer legislativen Funktion sind Parlamente zugleich „Watchdogs“ der Regierung. Wie bei Querschnittsthemen im Allgemeinen tun sich Parlamente beim Thema Nachhaltigkeit eher schwer, Regierungshandeln zu überprüfen. Sie sind ebenfalls nach Ressorts organisiert, haben aber keine übergeordnete „Koordinierungsebene“. Die Fraktionen sind hier das Querschnittselement, aber insgesamt erscheinen die thematischen „Silos“ eher stärker als auf Regierungsebene. Die SDGs haben in den Parlamenten zum ersten Mal eine spürbare Bewegung ausgelöst: In einigen Nationalparlamenten wurden Gremien mit Zuständigkeit für die SDGs ausgestattet, wie etwa der „Ausschuss für die Zukunft“ in Finnland. Während hier die Regierung Rechenschaft ablegen muss, gibt‘s bei dem seit rund zehn Jahren bestehenden parlamentarischen Beirat im Bundestag (PBNE) noch ausreichend Luft nach oben hinsichtlich Intensität und „Zahngehalt“ der Aktivitäten.
In anderen Ländern wurden neue Gremien gegründet wie beispielsweise im dänischen Folketing ein Agenda-2030-Netzwerk, in der französischen Nationalversammlung eine Transitionsinitiative oder Ausschüsse sowie Beiräte in den Parlamenten von Lettland, Ungarn und Rumänien.
IASS: Und auf EU-Ebene?
I.N.: Im Europaparlament hat der Umwelt- und Entwicklungsausschuss insgesamt drei Resolutionen zur Umsetzung der Agenda 2030 erarbeitet. Als institutionelle Neuerung haben diese beiden Ausschüsse die gemeinsame Leitung für Agenda-2030-Angelegenheiten übernommen. Sie erstellen einen jährlichen Bericht und nehmen mit einer gemeinsamen Delegation am Hochrangigen Politischen Forum der UN teil. Das neue Europaparlament muss diese Regelung entweder erneut beschließen, kann sie erweitern oder revidieren.
IASS: 2019 gilt als entscheidendes Jahr für die nachhaltige Entwicklung auf EU-Ebene - welche Verbesserungsvorschläge haben Sie?
I.N.: Die Hauptbotschaft unserer Studie ist, dass die Zusammenarbeit zwischen der EU-Ebene und den Mitgliedstaaten verbessert werden sollte: Hier sehe ich großes Potenzial für die erforderliche Beschleunigung. Dies gilt für alle Institutionen – wo ich hinschaue, wird daran nicht gedacht, und auch bei den Parlamenten gibt es Nachholbedarf und ungenutzte Potenziale!
Es sind zwar schon nützliche Instrumente im Einsatz wie beispielsweise das "Peer 2 Peer Tool" der Europäischen Kommission, mit dem gegenseitiges Lernen stimuliert und die Umsetzung von Umweltregelungen verbessert wird. Auf EU Ebene wiederum sollte die Umsetzung der SDGs aber das rahmengebende Leitbild für die nächste Kommission werden. Die vom Europäischen Rat am 20. Juni beschlossene neue strategische Agenda enthält schon Kernbausteine, auf die aufgebaut werden kann.
IASS: Welcher Mythos über die EU gehört ein für alle Mal klargestellt?
I.N.: Dass die Entscheidungen der EU durch „die Bürokraten in Brüssel“ getroffen werden. Das ist falsch. Die Kommission unterbreitet Vorschläge und Entscheidungen werden vom Rat, dem Verbund der Mitgliedstaaten, in der Regel zusammen mit dem Europaparlament getroffen. Diese werden typischerweise durch informelle Gespräche (Triloge) von Rat, Parlament und Kommission vorbereitet.
Hintergrund:
Gründungs- und Exekutivdirektor des IASS war bis zum September 2015 Prof. Dr. Klaus Töpfer. Gleichzeitig leitete er das Cluster „Globaler Gesellschaftsvertrag für Nachhaltigkeit“. Von 1987 bis 1994 war er Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit und von 1994 bis 1998 Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau.
Das IASS forscht mit dem Ziel, Transformationsprozesse hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft aufzuzeigen, zu befördern und zu gestalten, in Deutschland wie global. Der Forschungsansatz des Instituts ist transdisziplinär, transformativ und ko-kreativ: Die Entwicklung des Problemverständnisses und der Lösungsoptionen erfolgen in Kooperationen zwischen den Wissenschaften, der Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein starkes nationales und internationales Partnernetzwerk unterstützt die Arbeit des Instituts. Zentrale Forschungsthemen sind u. a. die Energiewende, aufkommende Technologien, Klimawandel, Luftqualität, systemische Risiken, Governance und Partizipation sowie Kulturen der Transformation. Gefördert wird das Institut von den Forschungsministerien des Bundes und des Landes Brandenburg.
(Quelle: Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung / Institute for Advanced Sustainability Studies e.V. (IASS) Potsdam.)
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