The Economist | Flüchtlingspolitik - Angela Merkel an ihren Grenzen
London/Düsseldorf, 19.10.2015 16:33 Uhr (Gastautor)
Mit der Entscheidung, Hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, hat Kanzlerin Angela Merkel eine der weitreichendsten Entscheidungen ihrer Amtszeit getroffen. Doch mit den neuen Herausforderungen scheint die Regierung überfordert zu sein. Ebenso kippt die Stimmung in der Bevölkerung und die anfängliche Begeisterung flaut langsam ab.
Der britische "The Economist" widmet sich in seiner aktuellen Ausgabe um die Debatte zur deutschen Flüchtlingspolitik. FMM-Magazin stellt als Medienpartner regelmäßig ausgewählte Artikel aus dem Originalen vor.
Der Originalbeitrag lautet "Merkel at her limit".
Was ein Monat Unterschied ausmacht. In der Nacht zum 04. September 2015 vollzog Angela Merkel die wohl dramatischste Entscheidung ihrer Amtsperiode als Bundeskanzlerin: Sie setzte die europäischen Asylvorschriften außer Kraft und lies Zigtausende gestrandeter Flüchtlinge in Ungarn über Österreich nach Deutschland einreisen. Es war ein moralische Geste im Augenblick dieser Stimmungslage. Als The Economist in den Druck ging, wurde Merkel als Favorit für den Friedensnobelpreis gehandelt.
In Deutschland jedoch kann diese selbstlose Umarmung die bisher fast unbesiegbare Kanzlerin schwächen. Unter Verwendung einer untypisch missionaren Sprache wiederholt Merkel immer wieder, dass das Recht auf Asyl keine Grenzen nach oben kennt. Joachim Gauck allerdings, von dem als Bundespräsident erwartet wird, sich aus der alltäglichen Politik heraus zu halten antwortete, dass die Aufnahmekapazitäten begrenzt seien, auch wenn noch nicht klar wäre, wo die absolute Grenze ist. Wie abgesprochen wandelte sich der politische Ton gegen Merkel.
Die Zahlen sind dramatisch. Man glaubt das alleine im Monat September mehr als 200.000 Migranten Deutschland erreicht haben. Die offiziellen Prognosen gingen im August von ca. 450.000 bis 800.000 Tausend pro Jahr aus. In dieser Woche zitierte die Bildzeitung Schätzungen, wonach jedoch bis zu 1,5 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland kommen könnten, in etwa so viele wie München Einwohner hat. Zudem haben diejenigen, denen man Asyl gewährt das Anrecht ihre Familien nachzuholen. Es ist kein Ende in Sicht.
Überlastung der Städte und Kommunen zur Flüchtlingshilfe nimmt zu
Die Bearbeitungszentren überschreiten wöchentlich ihre Kapazitäten. Die lokalen Behörden kämpfen darum festen Wohnraum zu finden, da die Zeltstädte im Winter nicht ausreichen. Hamburg hat damit begonnen leere Bürogebäude zu beschlagnahmen, unabhängig der rechtlichen Fragen. Berlin und Bremen planen ähnliche Maßnahmen. Schulen haben damit zu kämpfen, Flüchtlingskinder ohne Deutschkenntnisse zu integrieren.
Es brechen Kämpfe aufgrund unterschiedlicher ethnischer und religiöser Gruppierungen unter den jungen Männern in den Asylzentren aus. Es gab mehrere Brandanschläge auf Migrantenzentren. In Dresden wächst die Pegida wieder heran; an diesem Montag protestierten ca. 9.000 Menschen gegen mehr Flüchtlinge.
Die deutsche Mainstreamgesellschaft ist tolerant, jedoch wird sie immer nervöser. Aktuell geben 51 Prozent der Deutschen in Umfragen an, das sie Angst vor dem Flüchtlingsstrom haben - gut 13 Prozent mehr als im September. Das Ansehen von Merkel sank um 9 Punkte auf immer noch respektable 54 Prozent. In zwei Umfragen rutschte Merkel als beliebteste Politikern auf den vierten Platz ab.
Heftigen Gegenwind erhält Angela Merkel vom CSU-Chef Horst Seehofer. In einer Sitzung drohte er halb scherzend, dass er eine Busladung von Flüchtlingen vor den Bundestag in Berlin abladen werde. Gerda Hasselfeldt von der CSU erwägt Transitzonen an den deutschen Grenzen, ähnlich wie auf Flughäfen. Eine Gruppe von Christdemokraten, die sich selber "Sicherheitsclub" nennt debattiert, Deutschland komplett dicht zu machen. Andere CDU Politiker haben einen Brief an Merkel geschrieben, in dem sie ihr Gesetzesbruch vorwerfen.
Merkel will Änderungen vornehmen, wie etwa die Kürzung des Taschengeldes für Flüchtlinge (derzeit 143 Euro pro Monat) in eine Ausgabe von Warengutscheinen. Es sollen mehr Polizisten und Verwaltungsangestelle eingesetzt werden. Alle Balkanländer wurden als sicher eingestuft, um Asylbewerber aus diesen Ländern schneller abschieben zu können. Am 06. Oktober schließlich hat Angela Merkel das Thema Flüchtlingspolitik an sich gerissen und den Innenminister degradiert.
Nichts von den Aktionen wird allerdings die Zahl der Flüchtlinge aus dem Irak, aus Syrien oder Afghanistan reduzieren. Merkel hat in der Europäischen Union um eine Vereinbarung gerungen, dass 120.000 Flüchtlinge anderen EU-Mitgliedstaaten zugewiesen werden. Aber dieser Kompromiss wird die Flüchtlingszahlen in Deutschland eher nicht reduzieren.
Nun konzentriert sich Merkel auf die Türkei. Hier sollen die Flüchtlinge gehalten werden, damit sie nicht die EU-Grenzen überschreiten. Aber die Türkei hat schon über 2 Millionen Flüchtlingen Asyl gewährt. Merkel will ihre Kritik an dem Vorgehen der Türkei hinsichtlich Pressefreiheit und dem Thema kurdischer Separatisten abschwächen.
Zusammenwachsen was zusammengehört ...
Inzwischen wird immer klarer, dass die Flüchtlingskrise Deutschland mehr verändern wird als die Wiedervereinigung vor 25 Jahren. Damals sollte zusammenwachsen was zusammengehört, wie es Willy Brandt einmal sagte. Die Herausforderung ist, wie soll zusammenwachsen, was bisher nicht zusammengehörte? Die Deutschen machen sich Sorgen, ob muslimische Flüchtlinge deutsche Werte respektieren, wie die Gleichbehandlung der Geschlechter oder die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel und den Juden.
Die Macht der Bundeskanzlerin sei (noch) nicht in Gefahr, sagt Timo Lochocki vom German Marshall Fund. Denn Angela Merkel steht kein Christdemokratischer Herausforderer im Weg und die Mitte-Links-Sozialdemokraten sind intern zerrissen. Und die linke Opposition kann sie nicht angreifen, da sie ihre Flüchtlingspolitik unterstützen.
Angela Merkel steht gewiss unter Druck wie nie zuvor. Doch zeigt sie in dieser Krise einen neuen Führungsstil. Sie hat ihre moralische Berufung gefunden. Denn wenn " ... sie sich für eine freundliche Geste entschuldigen muss, dann ist es nicht ihr Land ...".
Ein Interview mit der Economist-Chefredakteurin Zanny Minton Beddoes finden sie auf unserer FMM-Special Seite.
(Quelle: The Economist) (Redigiert/Übersetzung: Frank Schulz)
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